Diese Ausstellung markiert den Beginn einer neuen, vielversprechenden Zusammenarbeit zwischen der White Square Gallery und dem jungen Berliner Künstler Sven Ballenthin. Unserer Tradition folgend, handelt es sich dabei um einen Maler mit einem außergewöhnlichen Talent im Umgang mit Farben und einer überbordenden Fantasie, die mit seiner Wissbegier wetteifert. Zugleich ist Sven Ballenthin eine weitere Position in unserem Künstlerstamm, die nicht abstrakt, sondern gegenständlich ist. Diese Gegenständlichkeit oder vielmehr die figurativen Welten, die Sven Ballenthin auf seinen Leinwänden ausbreitet, spiegeln die lebhafte Entwicklung seines eigenen reifenden Weltbildes wider. Dabei bedient er sich unter anderem des Vokabulars der europäischen Kunst- und Kulturgeschichte, in der er unermüdlich und kontinuierlich forscht.
Was sehen wir, wenn wir die Werke dieses Künstlers betrachten?
Jedes Bild besteht aus einer Vielzahl von Elementen – Landschaften, Interieurs, Porträts, Stillleben und einzelnen Gegenständen, die alle nebeneinandergestellt, ineinandergeschoben und gepresst, aufeinandergeschichtet und gestapelt sind. Sie alle enthalten Teile, ob Figuren oder Formen, Gegenstände oder Symbole, die uns oft familiär anmuten. Wir werden begrüßt von bekannten Protagonisten, Zitaten und Fragmenten, von Farben, Gesten und Blicken, die uns erstaunlich vertraut zu sein scheinen. Diese Vertrautheit wird uns vom Künstler als eine Art Einladung angeboten, in die Bildwelten einzutreten, die so schön und farbenprächtig, zugleich aber auch so fremd und geheimnisvoll vor uns liegen. Diese uns vage vertrauten Gestalten – jeder findet darunter etwas, was er wiederzukennen glaubt – dienen als Schlüssel oder besser als Dietriche, die der Künstler für den geneigten Betrachter seiner Werke anfertigt. Damit lassen sich die Türen öffnen und der Weg ist frei.
Auf diesem Weg bleiben wir aber nicht vollkommen allein: Sven Ballenthin bietet uns viele Orientierungshinweise, die sowohl in der Geschichte zu suchen als auch in unserer Gegenwart verankert sind. Er lässt uns immer wieder neue, eigene Erzählungen spinnen, indem wir unsere Erfahrungen, Assoziationen und Emotionen ins Spiel bringen. Alles, was wir tun müssen, ist, eine inspirierende Richtung zu finden und sie dann möglichst nicht zu verlieren. Aber selbst wenn sie doch verloren geht und der Weg zunächst nirgendwohin zu führen droht, ist das auch kein Problem, denn ein Neuanfang ist jederzeit möglich und sogar willkommen. Wie der erste Teil des Titels dieser Ausstellung verspricht: „Geradeaus kann man nicht weit kommen“.
Dieser nachdenkliche Satz stammt vom Kleinen Prinzen aus der gleichnamigen poetischen Erzählung von Antoine de Saint-Exupéry. Um etwas Besonderes oder Neues zu entdecken, muss man die bekannten und gewohnten Wege verlassen und einen Perspektivwechsel wagen. Es gilt, auf die vielfältigen Zeichen zu achten, sie als Wegweiser zu erkennen und zu nutzen. Die Arbeiten von Sven Ballenthin sind übersät davon, sie bestehen geradezu daraus. Ein Apfel, der über den Teller mit dem Goldrand tollt, eine geöffnete Auster, ein emporsteigender Glaskelch, eine brennende Feder des Feuervogels, ein sinkendes Schiff mit einem schlafenden Hund davor, die schimmernde Vision einer Küstenstadt, das antike Tor, die abgetragenen Sandalien … die Liste ist schier endlos. Alles Gegenstände, die sich als Sinnbilder eignen, aber nicht notwendig und nicht überall als solche wirken müssen.
Der Künstler lässt uns auf viele Fragezeichen stoßen und überlässt es uns, diese Rätsel in den allein von uns gewählten Kontext zu stellen. Die Szenen, die uns in den Werken altmeisterlich anmuten, werden vom Künstler mit Leichtigkeit, ja scheinbar mühelos ausgeführt. Einige Teile sind fast beängstigend authentisch und könnten sogar für entsprechende Fälschungen gehalten werden. Andere wiederum sind so skurril, dass man seinen Augen nicht traut und hin und wieder herzhaft lachen muss. All diese Kompositionen und manche Übertreibungen dienen dabei einem bestimmten, aber äußerst kreativen Zweck. Der Betrachter wird immer wieder herausgefordert, seine Sehgewohnheiten zu überdenken, seine selbstverschuldeten Klischees zu überprüfen und vielleicht sogar einige davon abzulegen. Der Künstler behandelt seine Leinwände nicht nur mit faszinierender Virtuosität, sondern auch mit einer gehörigen Portion Humor. Er zwingt uns nicht, alles zu wissen oder krampfhaft nach Bedeutungen zu suchen, vielmehr ermutigt er uns, selbst kreativ zu werden.
Ein weiterer höchst spannender Aspekt ist die Zeitlosigkeit, die all diesen Kunstwerken innewohnt. Der Künstler zwingt uns in kein von ihm bestimmtes Zeitgefüge. Die bekannten Figuren und Zitate sind restlos aus ihrem ursprünglichen inhaltlichen Kontext herausgelöst und in völlig neue Strukturen und Beziehungen eingefügt. Die Leinwände sind zwar mit Figuren und Ereignissen gefüllt, aber wir werden in diesen Szenen keinen übergreifenden, vom Künstler klar definierten Zeitbezug finden. So gesehen, bleiben die Werke völlig zeitlos, solange wir sie sie nur betrachten. Zugleich aber steht es uns völlig frei, alles, was wir sehen, in einen von uns gewählten zeitlichen Kontext zu stellen, in den Rahmen gegenwärtiger oder auch vergangener Ereignisse. Es ist immer der Betrachter, der den Blickwinkel wählt und die Sujets klassisch historisch oder brandaktuell interpretiert. Dieser Prozess kann unendlich oft wiederholt werden, ohne dass die Werke ihren Reiz verlieren.
Die Kunst von Sven Ballenthin ist ein Spiegelbild der Welt, in der er und wir alle leben. Es ist ein Knäuel von Zusammenhängen, Sitten, Regeln und allerlei Dogmen, also von Dingen, die wir von Kindheit an auswendig kennen, mit denen wir aber weitgehend wertfrei umgehen. Wir akzeptieren und befolgen sie stillschweigend, ohne das Bedürfnis zu verspüren, darüber nachzudenken. Hier und da sehen wir die Absurdität mancher Bräuche und Rituale, aber ein radikales Umdenken findet selten statt. Doch auch das ist an sich nichts Neues und seit der Aufklärung ein dankbares Thema in der Literatur und Philosophie. Die Liste der Werke – von Literatur und Bühnenkunst bis zur Malerei – die genau dieses Problem von allen Seiten durchleuchten, ist unendlich lang. Einige von ihnen begegnen uns bereits in der Kindheit und bleiben für immer unsere weisen Begleiter und Ratgeber, die ihre Welten mit uns teilen. Neben dem einsamen Planeten des Kleinen Prinzen sind es auch das Wunderland und die Spiegelwelt, in die Lewis Carroll seine Alice zum Erwachsenwerden schickt.
Sven Ballenthins Bilderwelten, bevölkert von skurrilen und faszinierenden Figuren, haben viel mit diesen Geschichten gemeinsam. Sie bieten uns unendliche kreative Projektionsflächen sowie das seltene und köstliche Vergnügen, sich auf eigene Gefahr auf eine geistige Odyssee zu begeben.
Fairfarren, Alice.